Abdij Lilbosch – Echt
Cisterciënsermonniken

Anthologie der monastischen Spiritualität

1

Dieses süße Spiel der Liebe zwischen Trost und Leid, Verlockung und Verfolgung, Wort und Antwort, Zärtlichkeit und Liebe bildet den gesamten Inhalt dieses Liedes, sowohl in den Worten als auch in den Handlungen. Aber dasselbe geschieht auch ständig im Seelengrund und im Herzen der Braut, wer immer sie auch sein mag, wenn sie ihre Seele vor ihrem Herrn und Gott ausschüttet und mit Freude auf das hört, was Gott der Herr in ihr spricht. Das Gespräch zwischen dem Bräutigam und der Braut ist ein Zeugnis und zugleich eine Widmung eines liebenden Herzens. Der Bräutigam bezeugt ihre Verdienste tief im Herzen der Braut, und die dankbare Hingabe der Braut gibt dem Bräutigam wiederum die Gefühle der Treue, die ihm gebühren.

Wilhelm von St. Thierry (Kommentar zum Hohelied der Liebe, S. 57)

2

Abdij Lilbosch bloemlezingDie Braut ist nun zu sich gekommen nach der ersten rasenden Freude des ersten gemeinsamen Ausruhens, in dem sie im Geiste zu Gott hinausgegangen war. Sie ist über sich selbst nachdenklich geworden (2. Korinther 5,13), und ihr Gedächtnis kaut immer noch auf der geschmeckten Süße herum. Wenn sie die heiligen Gefühle aufgebraucht hat, sucht sie sich einen einsamen Ort und flieht aus der Öffentlichkeit. Sie liebt es, sich in der Abgeschiedenheit der Zelle und in der Einsamkeit des Herzens niederzulassen und sich dort tief zurückzuziehen, um sich der Reinheit des Herzens zu widmen. Wenn sie in den Spiegel und das Geheimnis blickt, ist sie nur darauf bedacht, ihr Gesicht vollständig zu reinigen, um von Angesicht zu Angesicht sehen zu können (1 Kor 13,12).

Wilhelm von St. Thierry (Kommentar zum Hohelied der Liebe, S. 185)

3

Der Geist der Weisheit hat die Angewohnheit, diejenigen, die er reich machen will, zuerst arm zu machen, und diejenigen, die er erhöhen will, zuerst demütig. So errichtet er das hohe Gebäude der wahren Vollkommenheit auf dem Fundament wahrer Demut.

Wilhelm von St. Thierry (Kommentar zum Hohelied der Liebe, S. 137)

4

Abdij Lilbosch bloemlezingWenn Vögel beginnen, ihre Flügel in die Luft zu heben, drücken sie zunächst ihren ganzen Körper auf den Boden. In gleicher Weise haben wir, die wir den Himmel im Visier haben, uns von der bewohnten Welt abgewandt. In der Sehnsucht nach der Fülle haben wir die Reichtümer weggeworfen. Wir strebten nach der höchsten Ehre und wurden als der Abschaum der Welt gedemütigt. Wir sind nichts geworden, um etwas zu sein. Lasst uns alle unsere Gedanken und Wünsche nach vorne richten, und so wie die Widder es tun, lasst uns zuerst ein wenig zurücktreten, um dann stärker nach vorne stürmen zu können. Gewiss, der Hang, den wir erklimmen wollen, ist steil, und der Weg, den wir zu gehen versuchen, ist schmal. Deshalb müssen wir frei von allem sein und dürfen keine Lasten tragen. 

Isaak van Stella (Predigt)

5

Wer ist die Braut?
und wer ist der Bräutigam?
Er ist unser Gott,
und sie - wenn ich es zu sagen wage -
wir sind...
Lasst uns jubeln,
das ist unser Ruhm:
wir sind es
Auf die Gott seinen Blick wirft.

Bernhard von Clairvaux (Predigten über das Hohelied der Liebe)

6

Abdij Lilbosch bloemlezing"Er gehört mir,
und ich bin Sein".
Er gehört mir,
weil er gut und barmherzig ist;
Ich bin Sein,
denn ich bin nicht undankbar.
Er gewährt mir einen Gefallen nach dem anderen;
Ich danke Ihm für jeden Dank.
Sein Ziel
über meine Befreiung
Ich zu seiner Ehre;
Er über meine Errettung,
Ich nach Seinem Willen.
Er auf mich und auf keinen anderen,
denn ich bin seine kleine Taube.

Bernhard van Clairvaux (Predigten über das Hohelied der Liebe)

7

Die Quelle des Lebens ist
Liebe.
Und für mich lebt die Seele nicht
die nicht aus ihr geschöpft hat.
Aber wie kann sie sonst die
Es sei denn, sie bleibt
bij de Bron
was ist Liebe?

Bernhard van Clairvaux (Aus: Verschreibung und Dispens)

8

Abdij Lilbosch bloemlezingSie schreiben etwas,
Ich kann es nicht leiden
wenn ich nicht lese
Lesen Sie den Namen Jesus.
Streiten oder diskutieren Sie etwas?
es gefällt mir nicht
wenn Jesus nicht darin vorkommt.
JESUS!
Honig im Mund,
eine betörende Melodie
für das Ohr,
Jubel im Herzen!

Bernhard van Clairvaux (Predigten über das Hohelied der Liebe)

9

Er sprach kaum mit dem Vorgesetzten und nur über das Notwendige. Er ging umher wie ein Tauber, der nicht hört, und wie ein Stummer tat er seinen Mund nicht auf; er war wie ein Mann, der nicht hört und nicht spricht (Ps 38,14-15). Aber wenn jemand die Gelegenheit nutzte, mit ihm zu sprechen, lag sofort ein solcher Duft von Freundlichkeit in seinen Worten, eine solche Freude in seinem Gesicht, ohne jede Frivolität, dass seine Art zu sprechen und die Demut beim Zuhören zeigten, wie sehr sein Schweigen leer von Bitterkeit und erfüllt von Süße war.

 Aelredus van Rievaulx (Der Spiegel der Liebe, S. 96)

10

Abdij Lilbosch bloemlezingSo sehr uns die äußere Verfolgung oder die innere Verwirrung auch betrübt, der göttliche Trost der Heiligen Schrift bringt uns Freude. "Denn alles, was in der Vergangenheit aufgeschrieben wurde, ist zu unserer Erbauung aufgeschrieben worden, damit wir durch die Beständigkeit und den Trost, den wir aus der Heiligen Schrift schöpfen, in der Hoffnung leben können. (Röm. 15,4) Darum, liebe Brüder, wenn uns etwas Schlimmes, Trauriges oder Bitteres widerfährt, so verschwindet es bald, oder es ist wenigstens leicht zu ertragen, wenn wir eine eindrucksvolle Seite der Schrift lesen. 

Aelredus van Rievaulx (Predigt)

11

Echte, tief empfundene Freundschaft lebt von viel wertvolleren Gaben als von Besitz. In erster Linie leben die Freunde füreinander, eine heilige Sorge umgibt sie, das Gebet umhüllt ihre beiden Herzen. Sie freuen sich über die Güte des anderen, schämen sich und demütigen sich bei einem Fehler. Die Schuld eines Freundes trägst du auf deinen Schultern, sein Aufstieg zum Guten ist dein Fortschritt.

Aelredus van Rievaulx (Über die "geistige Freundschaft")

12

Abdij Lilbosch bloemlezingGibt es etwas Nützlicheres als das Gebet? Beten Sie also für die Menschen. Gibt es etwas Menschlicheres als Mitleid? Zeigen Sie es unverzüglich. Bringt also die ganze Welt in die Tiefe eurer Liebe, und betrachtet dort das Gute und das Schlechte. Freuen Sie sich über die einen und weinen Sie über die anderen. Dort sollst du deine Augen auch auf die Leidenden richten, auf die Bedrängten, und dich ihrer erbarmen.

 Aelredus van Rievaulx (Berücksichtigung)

13

"Ich diene Dir nicht", sagt der Mensch zu seinem Schöpfer! "Dann diene ich dir", sagt der Schöpfer zum Menschen. "Legen Sie sich hin. Ich werde dir dienen, ich werde dir die Füße waschen. Ruhe dich aus, ich werde deine Müdigkeit auf mich nehmen und deine Schwächen tragen. Nutze mich nach Belieben für deine Bedürfnisse. Nicht nur als deine Sklavin, sondern als dein Lasttier und dein Eigentum". 

Guerricus von Igny (Predigt zum Palmsonntag)

14

Abdij Lilbosch bloemlezing"Wenn ihr hungrig oder durstig seid und vielleicht nichts Besseres zur Hand habt und kein anderes ebenso fettes Kalb zur Hand ist, siehe, dann bin ich bereit, geopfert zu werden, damit ihr mein Fleisch essen und mein Blut trinken könnt. Und fürchte nicht, dass du durch den Tod deines Sklaven zu Schaden kommst, denn dann bist du seiner Knechtschaft beraubt. Auch wenn ihr gegessen und getrunken habt, werde ich unversehrt und lebendig bei euch bleiben und euch wie zuvor dienen. Wenn du in die Gefangenschaft verschleppt oder als Sklave verkauft wurdest, dann nimm mich und kaufe dich mit meinem Preis zurück, ja, mit mir selbst als Lösegeld.

Guerricus van Igny (Predigt zum Palmsonntag)

15

Der Mörder, der durch das Bekenntnis seiner Schuld und deiner Unschuld seine Todesstrafe, die er als Mörder verdient hatte, in ein Märtyrerkreuz verwandelte und statt der Strafe für seine Missetat den Lohn des Himmels empfing, hat sehr gut und sehr weise gehandelt, als er im Schatten des Kreuzes Zuflucht vor der Hitze des Tages und vor der Bedrückung durch seine Qualen suchte; sein Beispiel ist uns eine Ermahnung. Der Herr möge jetzt ein Wort zu mir sprechen, wie jenes freudige Wort zu dem Mörder, mit dem er ihm nicht nur seine Schuld vergab, sondern ihn zum Märtyrer krönte.

Johannes von Ford (Predigt über das Hohelied der Liebe)

16

Abdij Lilbosch bloemlezingWenn man fragt: "Was tut ein Mönch, um seine Existenz in der modernen Welt zu rechtfertigen?", scheint es, dass der Mönch nur durch das definiert werden kann, was er äußerlich erreicht, und nicht durch das, was er ist, oder durch die Art und Qualität seines Lebens. Er muss sich in der Welt der Quantität (auch statistisch) rechtfertigen, während seine Lebensaufgabe darin besteht, echte Lebensqualität zu erreichen.  

Thomas Merton (aus: Mönch sein heute)

17

Durch Armut und Einfachheit gelangt man zu einer richtigen Einschätzung der Welt. Durch eine innere "Nacktheit" von Bildern und ausgefeilten Ideen, durch die Freiheit von komplizierten spekulativen Systemen, gewinnt man einen direkten Einblick in die Wirklichkeit in "Reinheit des Herzens".  

Thomas Merton (aus: Mönch sein heute)

18

Abdij Lilbosch bloemlezingDer Mönch muss ein Zeichen der Freiheit sein, ein Zeichen der Wahrheit, ein Zeugnis für die innere Freiheit der Kinder Gottes, mit der Christus zu uns gekommen ist. Das "Leben in der Wüste" muss ein Zeichen der Hoffnung für Menschen sein, die durch Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit unterdrückt und entfremdet werden. Der Mönch ist dazu da, um zu zeigen, dass man wirklich glücklich sein kann, ohne von irgendeinem weltlichen Erfolg abhängig zu sein, ohne die Erfüllung unserer Ambitionen. Durch die Einfachheit, die Armut, die Abgeschiedenheit und die Einsamkeit seines "Wüstenlebens" legt er Zeugnis davon ab, dass das Glück eines Christen nicht von den Verheißungen dieser Welt abhängt. Er ist dazu da, den Menschen zu helfen, die Freiheit der Armen im Geiste zu leben. Er tut dies nicht, indem er predigt, sondern einfach, indem er in seinem täglichen Leben die tiefe Bedeutung dessen, was er glaubt, zum Ausdruck bringt: das Evangelium Christi, das ihn lehrt, in direktem Kontakt mit der Güte Gottes zu leben und an dieser Güte gemeinsam mit seinem Bruder in einem Leben der einfachen, ehrlichen Arbeit, des Studiums und des Gebets teilzuhaben.

Thomas Merton (Mönch sein heute)

19

Die höchste Würde des Menschen, seine wichtigste und besondere Kraft, das tiefste Geheimnis seines Menschseins, ist seine Fähigkeit zu lieben. Diese Fähigkeit in der Tiefe seiner Seele ist der Beweis dafür, dass er das Bild und Gleichnis Gottes in sich trägt. Im Gegensatz zu den anderen Lebewesen um uns herum haben wir Zugang zu den Tiefen unseres Wesens. Wir können uns wie in einen Tempel des Lichts und der Freiheit begeben. Wir können die Augen unseres Herzens öffnen und vor Gott, unserem Vater, verweilen. Wir können zu ihm sprechen und seine Antwort hören. Er sagt uns nicht nur, dass wir geschaffen wurden, um das Universum zu verwalten, sondern dass wir zu etwas viel Höherem berufen sind. Wir sind seine Kinder, die dazu berufen sind, ihm gleich zu werden und in gewissem Sinne selbst "Götter" zu werden. 

Diese Berufung, Kinder Gottes zu sein, bedeutet, dass wir lernen müssen, so zu lieben, wie Gott liebt. Denn Gott ist Liebe, und indem wir lieben, wie er liebt, werden wir vollkommen, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist. Und da wir dazu berufen sind, die Welt, die Gott uns anvertraut hat, zu verwalten und zu verbessern, sind wir auch dazu bestimmt, die Menschen und Dinge, die wir dort vorfinden, zu lieben.

Thomas Merton (Liebe)

20

Abdij Lilbosch bloemlezingBruder, der Kontemplative ist nicht jemand, der feurige Visionen von Engeln hat, die Gott auf ihrem imaginären Wagen tragen, er ist einfach jemand, der sich mit dem Verstand in die Wüste gewagt hat, die jenseits der Sprache und jenseits der Ideen liegt, wo man Gott in der Nacktheit der reinen Hingabe begegnet, das heißt, in der Hingabe unserer eigenen Armseligkeit und Unvollkommenheit, so dass unser Verstand nicht mehr mit einer Krampfhaftigkeit an sich selbst gebunden ist, als ob das Denken selbst uns existieren ließe.

Thomas Merton (Die Botschaft eines Kontemplativen)

21

Die Botschaft der Hoffnung, die der Kontemplative Ihnen nahelegt, besteht also nicht darin, dass Sie Ihren Weg durch den Dschungel der Sprache und der Probleme, die Gott heute umgeben, suchen sollen, sondern dass Gott Sie liebt, dass er in Ihnen gegenwärtig ist, dass er in Ihnen lebt, ob Sie es verstehen oder nicht. Alles, was der Kontemplative Ihnen zu sagen hat, ist, Ihnen noch einmal zu versichern, dass Sie, wenn Sie es wagen, in Ihr eigenes Schweigen einzudringen und furchtlos in die Einsamkeit Ihres eigenen Herzens zu gehen, wenn Sie es wagen, diese Einsamkeit mit dem anderen einzelnen Menschen zu teilen, der durch Sie und mit Ihnen Gott sucht, sicherlich das Licht und die Fähigkeit erlangen werden, das zu verstehen, was jenseits von Worten und Theorien liegt, weil es zu nahe ist, um es zu erklären: Denn es ist das innige Einssein des Geistes Gottes mit deinem verborgenen Inneren in der Tiefe deines Herzens, so dass du und er in Wahrheit nur ein Geist sind. Ich liebe dich in Christus.

Thomas Merton (Die Botschaft eines Kontemplativen)

22

Denn unsere Herzen sind bereits in einem Zustand des Gebets. Wir haben das Gebet zusammen mit der Gnade in unserer Taufe empfangen. Der Zustand der Gnade, wie wir ihn nennen, bedeutet den Zustand des Gebets auf der Ebene unseres Herzens. Dort, in unserem tiefsten Inneren, sind wir seither in ständigem Kontakt mit Gott. Der Heilige Geist Gottes hat uns dort ergriffen, hat uns ganz in Besitz genommen; er ist der Atem unseres Atems und der Geist unseres Geistes geworden. Er führt unsere Herzen zu dieser Hinwendung zu Gott. Er ist der Geist, der nach Paulus ohne Unterlass zu unserem eigenen Geist spricht und bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind. Ständig schreit der Geist in uns und betet Abba, Vater, in Bitten und Seufzern, die nicht in Worte zu fassen sind, die aber unser Herz keinen Augenblick lang verlassen. (Röm. 8,15; Gal. 4,6)

André Louf (Herr, lehre uns zu beten)

23

Wir tragen diesen Zustand des Gebets immer mit uns, wie einen verborgenen Schatz, dessen wir uns nicht oder nur wenig bewusst sind. Unser Herz klopft irgendwo, aber wir spüren es nicht. Wir sind taub für unser betendes Herz, wir schmecken die Liebe nicht, wir sehen das Licht nicht, in dem wir leben.

André Louf (Herr, lehre uns zu beten)

24

Denn unser Herz, unser wahres Herz, schläft, und es muss geweckt werden, langsam - ein ganzes Leben lang. Daher ist das Gebet überhaupt nicht schwierig. Sie ist uns schon seit langem gegeben worden. Aber sehr selten ist man sich seines eigenen Gebets bewusst. Jede Gebetstechnik ist darauf ausgerichtet. Wir müssen uns dessen bewusst werden, was wir bereits empfangen haben, wir müssen lernen, es zu spüren, es zu erkennen, in der vollen und stillen Gewissheit des Geistes, dieses Gebet, das irgendwo tief in uns verwurzelt ist und wirkt. Sie muss an die Oberfläche unseres Bewusstseins kommen. Sie wird allmählich alle unsere Fähigkeiten, Geist, Seele und Körper durchdringen und ergreifen. Unsere Psyche und auch unser Körper müssen im Rhythmus dieses Gebetes zu schwingen beginnen, werden von innen her zum Gebet berührt, werden ins Gebet gelegt, wie ein trockenes Holzscheit ins Feuer gelegt wird. Ein alter Vater drückte dies prägnant aus: "Die Askese des Mönchs: Das Feuer im Wald".   

André Louf (Herr, lehre uns zu beten)

25

In den letzten zehn Jahren habe ich mich mit dem Thema der Vergöttlichung beschäftigt. Obwohl der Begriff "Vergötterung" in der zeitgenössischen religiösen Sprache eindeutig nicht mehr vorkommt, hat er in der christlichen Spiritualität eine lange Geschichte. (...) Nach den Lehren vieler Kirchenväter, vor allem derer des Ostens, besteht das christliche Leben nicht so sehr darin, 'gut zu sein', sondern 'Gott zu werden'. Das Wirken des Heiligen Geistes in uns geht über die Reformierung unserer Moral hinaus. Es geht darum, so geformt zu werden, dass wir der göttlichen Natur teilhaftig werden und somit in der Lage sind, die unmöglichen Anforderungen zu erfüllen, die das Neue Testament an uns stellt. Wir fangen an, uns so zu verhalten, wie Jesus es uns gelehrt hat, und zwar nicht durch eine gewaltige Willensanstrengung unsererseits, sondern weil wir zu anderen Wesen geworden sind. Wir sind in einer anderen Sphäre der Existenz wiedergeboren worden. Wir sind das Produkt von Gottes neuem Schöpfungsakt. Die Vergöttlichung ist Gottes Werk, nicht das Ergebnis menschlichen Bemühens.

Michael Casey (aus: Vollkommen göttlich, vollkommen menschlich)

26

Für viele von uns ist das ein bisschen zu viel. Wir können Moral immer noch verstehen, und die göttliche Barmherzigkeit ist nicht jenseits unseres Verständnisses. Es ist viel schwieriger, den Ruf und die Gabe zu begreifen, wie Gott zu sein. Der Grund dafür ist, wie ich im ersten Kapitel darlege, unsere tiefe Unzufriedenheit mit der Unvollkommenheit unserer menschlichen Natur. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssen wir die Menschwerdung Gottes, das zentrale Geheimnis unseres Glaubens, betrachten. Dieses zentrale Geheimnis der Menschwerdung bedeutet für uns, dass die menschliche Natur eine so eigene Würde hat, dass es Gott möglich ist, in dieser menschlichen Natur zu leben und zu handeln. Wir sind vom himmlischen Hof ausgeschlossen, aber wir sind "edle Wesen", von Gott für die Gemeinschaft mit Gott geschaffen, nicht als Außenstehende, sondern als Personen, die zu einer innigen Teilhabe am göttlichen Sein geführt werden.

 Michael Casey (aus: Vollkommen göttlich, vollkommen menschlich)

27

Wir werden in dem Maße vergöttert, in dem nichts von unserer Menschlichkeit geleugnet, verachtet oder übersehen wird, in dem nichts von dem, was uns menschlich macht, verloren geht oder zurückbleibt. So wie der Sohn Gottes während seines Aufenthalts hier auf der Erde nichts von seiner Göttlichkeit zurückgelassen hat, so werden wir alles, was wirklich menschlich ist, in das ewige Leben mitnehmen. Möge die Menschlichkeit Jesu uns inspirieren, unser eigenes Menschsein in all seiner gegenwärtigen Zweideutigkeit anzunehmen, damit wir durch ihn und mit ihm und in ihm in einer Weise, die unsere Vorstellungskraft übersteigt, voll und ganz an seiner Göttlichkeit teilhaben können.

Michael Casey (Göttlich auf freiem Fuß, menschlich auf freiem Fuß)

28

Eine der klarsten Glaubensaussagen über Jesus von Nazareth ist, dass er zugleich vollkommen göttlich und vollkommen menschlich ist: perfectus Deus, perfectus homo. Die Worte sind leicht gesagt, aber sie enthalten ein großes Geheimnis. Das Menschsein und die Göttlichkeit Jesu existieren nicht nebeneinander und unabhängig voneinander, als zwei Dinge, die Welten voneinander entfernt sind. Im Gegenteil: Menschlichkeit und Göttlichkeit fallen in einer Person zusammen, so dass das, was Jesus tut, sowohl die Tat eines Menschen als auch die Tat Gottes ist. Ein klares Verständnis des Wunders der Menschwerdung Gottes ist notwendig, um das ebenso große Wunder unserer eigenen Vergöttlichung zu begreifen.

Michael Casey (Göttlich auf freiem Fuß, menschlich auf freiem Fuß)

29

Auf der einen Seite werden wir von dem Vorschlag des Verführers angelockt, dass wir "wie Götter" sein könnten. Andererseits lassen wir zu schnell alles los, was uns zu sehr daran erinnert, dass wir zur Erde gehören. Es fällt uns schwer, anzuerkennen, dass unser unvollkommenes Menschsein Gott näher ist als alles andere auf der Erde und dass unser Menschsein seinen besonderen Charakter gerade aus seiner Fähigkeit und seinem Wunsch bezieht, Gott immer ähnlicher zu werden. Vier Strategien zur Umgehung unserer Menschlichkeit: (a) Verheimlichung: (b) Anpassung an die Masse: (c) Abkopplung: (d) Selbstverbesserung.

Michael Casey (Ganz göttlich, ganz menschlich)

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Die Kirchenväter sahen in der Menschheit Christi eine Brücke zwischen uns und Gott - aber eine Brücke, über die der Verkehr in beide Richtungen ging. Christus wurde Mensch, damit wir göttlich werden, damit wir durch ihn die unendliche Liebe, zu der das menschliche Herz fähig ist, sehen und lernen. Die göttliche und die menschliche Natur haben begonnen, sich eng miteinander zu verbinden, so dass die menschliche Natur durch ihre innige Verbindung mit dem Göttlicheren ganz natürlich beginnt, danach zu streben, göttlich zu werden.

Michael Casey (idem)

31

Das Herz wird dort wohnen, wo es seine wertvollsten Besitztümer findet. Im Grunde handelt es sich um eine spirituelle Verbindung, die sich nicht auf eine bestimmte Erfahrung, Hingabe, Praxis oder Aktivität zurückführen lässt - obwohl sie dadurch aufrechterhalten oder ausgedrückt werden kann. Was Johannes die "innere Salbung" (1 Joh 2,27) nennt, ist etwas, das uns durch eine zweifache Dynamik übt, nämlich indem wir uns im Geheimen Gott anvertrauen und uns gleichzeitig von dem falschen Selbst lösen, das wir in einer ungläubigen Umgebung in uns widergespiegelt sehen. Johannes sagt, dass diese Salbung "uns alles lehrt"; dabei geht es nicht so sehr darum, uns theologische Informationen zu vermitteln, sondern vielmehr um eine tiefe affektive Bindung, die unsere Instinkte neu schult und uns ein Gespür dafür gibt, zu unterscheiden, was von Gott ist und was nicht.

Michael Casey (idem)

32

Die meiste Zeit finden die inneren Vorgänge der Gnade außerhalb unseres Bewusstseins statt. Sie können an der Oberfläche des Geistes sichtbar werden, z.B. bei Bekehrungs- oder Berufungserfahrungen, und wir können ihren Einfluss in den intensiven und tiefen Gefühlen erkennen, die manchmal unsere Gebetsversuche unterbrechen oder durchdringen. In dieser spirituellen Gefühlswelt gibt es oft ein tiefes christuszentriertes Element, das sich wesentlich von frommer Begeisterung, Sentimentalität oder gar einer heimlichen erotischen oder homoerotischen Bindung an die Person Jesu unterscheidet. Es ist ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit, der engen Verbundenheit, der Solidarität, des "Mit-Seins". Es ist, als würde man sich in der Person Jesu wiederfinden, aber auf eine andere Art und Weise als der Eifer, den wir früher auf unserer Reise erlebt haben. Sie ist ruhig, gelassen, selbstvergessen, energetisierend, mitfühlend und ermächtigend.

Michael Casey (idem)

33

Die verborgene Dynamik des Handelns Gottes in unserem Leben hinterlässt ihre Spuren in Form einer starken, zwischenmenschlichen und hoffnungsvollen Vorfreude auf unsere endgültige Teilhabe an der Auferstehung Jesu. Wir, die wir auf unsere Weise einen Teil des Leidens Christi getragen haben, sind berufen, Erben seines Reiches und im wahrsten Sinne des Wortes Teilhaber an der göttlichen Natur zu sein. Wir sind zur Vergöttlichung berufen, und die Verheißung Gottes ist sicher. Wenn wir uns diesen Gedanken etwas öfter zu Herzen nehmen würden, wäre unsere Reise sicherlich weniger anstrengend.

Michael Casey (idem)

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